11
Jan
2009

Neue Heimat

Zuerst war ich sehr skeptisch. Nach einer 4-Raum- in eine 1-Raum-Wohnung zu ziehen, das ist schon allerhand. Mit Freund und Katze noch dazu, die brauchen schließlich auch Platz (vor allem die Katze, die immer mal gern neue Rennstrecken ausprobiert). Nachdem der letzte Umzug aber gescheitert war, blieb fast keine Wahl, denn der Auszug aus der Riesenwohnung war schon angemeldet, Rückzug nicht mehr gut möglich und eigentlich auch nicht gewollt. Also sagten wir zu zum neuen Minimalraum: ein Zimmer, mit zwei Sofas, zwei Stühlen und einem Tisch zugestellt, vom Gang aus eine Küchennische mit einem (noch nicht funktionierenden) Ofen und ein Bad, das eigentlich auch eher eine Nische ist, eine Tür fehlt dort jedenfalls. Ich hab mich ein bisschen gefühlt wie „Augen zu und durch“. Ist ja nur bis März, länger gilt meine ausnahmsweise mal legale Aufenthaltserlaubnis nicht. Und es soll ja auch irgendwie ein organisiertes Leben nach der Diplomarbeit geben.
Die ersten zwei Tage waren gewöhnungsbedürftig, die Katze traumatisiert vom Transport in der Tasche, noch immer kein Schrank organisiert, alles voll mit Tüten und nichts von unserem bescheidenen Hausstand wiederzufinden. Mittlerweile ist der Ofen heil und sehr funktionstüchtig, man kann sogar auf dem Feuer kochen (ich weiß, ich gebe eine hervorragende Hausfrau ab), und auch ohne Schrank ist eine teilweise Ordnung hergestellt, in die ich heute sogar zum ersten Mal Freunde auf einen Wein einladen konnte. Der Kater hat heute mit einem Elan, den ich ihm gar nicht zugetraut hätte, einen Baum vor der Tür erklommen und sogar wieder den Weg herunter gefunden, und ich fühle mich wohl in unserem gemütlichen Nest.
Seit ein paar Tagen ist es sehr kalt und es liegt Schnee, soviel, wie ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Ich komme mir vor wie in einem Wintermärchen und merke erst jetzt, dass meine Stiefel ein wenig mehr Profil gut gebrauchen könnten, denn ich rutsche unsere neue steile Straße mehr oder weniger hinunter auf dem Weg in die Stadt.

Diskriminierung, mal ganz praktisch

Endlich sollte es für uns in eine neue Wohnung gehen. Die alte, in einem großen Wohnblock, ist für zwei Personen viel zu groß, viel zu teuer und ist daher bis jetzt, nachdem wir hier fast vier Monate gewohnt haben, kaum zur Hälfte eingerichtet. Die Lage ist außerdem nicht besonders schön – direkt an der Hauptstraße, wo die Katze höchstens auf den Balkon darf, um frische Luft zu schnuppern.
Nach langem Suchen fand sich was Kleineres. Was Winziges, um genau zu sein, ein anderthalb-Zimmer-Apartment im dörflichen Viertel ein Stück den Hang hinauf, ein Hinterhäuschen mit Blick auf die Stadt. Gestern abend haben wir uns mit dem Mann des Vermieterehepaars, die im Vorderhaus wohnen, die Wohnung angesehen und den Schlüssel bekommen, heute morgen die ersten Koffer gepackt und uns auf den Weg gemacht, froh, dass es nun endlich in eine Wohnung geht, die unseren Verhältnissen mehr entspräche und eine große Entlastung unserer finanziellen Situation bedeutet hätte.
Kaum hatten wir einen Fuß auf das Grundstück gesetzt, ging die Tür des ersten Hauses auf und die Vermieterin erschien, erwiderte flüchtig meinen Gruß, um dann eilends zu erklären, dass es ein Problem gäbe. Die Rohre seien im Hinterhaus kaputtgegangen und wegen der Kälte momentan unmöglich zu reparieren. Also sollten wir bitte den Schlüssel zurückgeben. Das sagte sie vehement mehrmals, es kam mir vor, als hätte sie ihn uns am liebsten aus der Hand gerissen, ein Wort der Entschuldigung fehlte dagegen völlig.
Wir standen vor dem Tor, fassungslos. Willkommen in Bosnien. Ich habe plötzlich eine vage Vorstellung davon, was Diskriminierung heißt und wie wütend und hilflos einen sowas macht. Denn dass die Frau log, war keine Frage. Lag es daran, dass sie mich gestern Englisch sprechen hörte und Fremde nicht willkommen sind? Oder lag es, zum wiederholten Mal in seinem Leben, am muslimischen Nachnamen meines Freundes? In mir steigt eine Welle an Rachedurst hoch und ich denke an all die Konzepte zur Versöhnung, über die ich in letzter Zeit soviel lese, und wie schwer es den Leuten fallen muss, denen wirkliches Unrecht geschehen ist.
Uns bleiben – Fluchtpläne, Resignation und erneutes Suchen.

Doppelt Feiern

In Bosnien, dem Land der Vielfalten, kann man die meisten Feste zweimal feiern. Hier treffen internationale Feiertage, christliche Ost- und Westkirche sowie Islam aufeinander. Weihnachten Nr. 1 (am 24./ 25. Dezember) feiert nur, wer irgendwelche kroatischen (d.h. katholischen) Verwandten hat. Darauf folgt Silvester Nr. 1 am 31.12., gefeiert mit dem üblichen Verschleiß an Feuerwerkskörpern (obwohl das einzige richtige Feuerwerk von der Stadt bezahlt wird, der Rest der Bevölkerung knallt), und dann darf man im neuen Jahr gleich nochmal (orthodox) Weihnachten feiern, am 07. Januar nämlich. Daher kommt es, dass zwar am 03. Dezember, als ich Zvornik für einen knappen Monat den Rücken kehrte, von Weihnachtsschmuck nichts zu sehen war und ich schon dachte, das sei hier nicht üblich, nun aber, am 30. Dezember, blinken überall überaus farbige Lichterketten und machen nochmal Vorfreude auf das Fest... an der Hauptstraße kann man klirrbunten Kitsch kaufen, der dazu schrecklich blechern und schief Weihnachtslieder von sich gibt. Ich frage mich, wer sich sowas hier leistet, bei den sowieso mehr als schmalen Gehältern. Das Wichtigste an Weihnachten wird das Essen sein (auch nicht viel anders als bei uns, nicht wahr), das Schenken ist dagegen nicht üblich. Morgens wird groß mit der Familie gefrühstückt, am Nachmittag/ Abend geht es zu Freunden, nochmal zum Essen, und dann ab in die Kneipe (allein das betrachtet, wäre hier jeden Tag Weihnachten...). „Weihnachtseinkäufe“ haben demzufolge vor allem mit Lebensmitteln zu tun. Die (orthodoxe) Neujahrswende Nr. 2 findet zwischen dem 13./14. Januar statt, angeblich etwas ruhiger als bei uns. Und dann sind die Feste zunächst mal geschafft.
Zvornik, die Stadt mit der schlechtesten Jugendinfrastruktur der Region – das Jugendzentrum sollte Ende 2008 fertig und betriebsbereit sein, inklusive Kino, Internetzugang und dem Sitz dreier Jugendorganisationen; am 31.12. ist zu vermelden, dass noch nicht einmal die Grundsteinlegung für das Gebäude vorgenommen wurde, allerdings gibt es seit ein paar Wochen einen sogar bei YouTube einsehbaren, flotten Werbespot der teils fleißigen, teils lediglich machthungrigen Gemeinderepräsentanten im Jugendbereich – überbietet sich zu Silvester Nr. 1 mal wieder selbst und verschwendet ihr Geld auf ein publikumswirksames Großereignis, ein Open-Air-Konzert in der Stadtmitte auf einer extra dafür errichteten hochmodernen Bühne mit Geflimmer und Gewummer, die nichts zu wünschen übrig lässt. Von der Kälte lässt sich niemand beirren, die Stimmung ist großartig, auch die Belgrader Band, die extra für dieses Konzert in die Provinz gereist ist, spielt gut gelaunt bis zu den letzten Zugaben. Um Mitternacht fallen sich alle in die Arme, das Feuerwerk geht schnell vorbei, und dann wird gefeiert bis in den frühen Morgen.

24
Nov
2008

Schnee

In einem Monat ist tatsächlich schon Weihnachten und vor zwei Tagen hat es zum ersten Mal richtig geschneit. Erst nachts ein bisschen, und am nächsten Tag waren die Bäume bereift und die Abhänge der Berge, die die Sonne nicht erreicht, auch noch nachmittags weiss. Das Wetter war herrlich und ich ging spazieren, war schon ein bisschen spät dran und entschloss mich trotz der grauen Wolkenberge, die plötzlich aufzogen, die „Promenade“ am Fluss entlangzugehen, die sich von einem Ende der Stadt zum anderen hinzieht. Ich war mit Mütze und Handschuhen schließlich gut ausgerüstet. Auf das, was kam, war ich allerdings nicht vorbereitet, es fiel nicht nur ein vorsichtiger erster Schnee, noch zur Hälfte Regen, nein, es schneite innerhalb weniger Minuten dicke Flocken, und als ich nach einer halben Stunde das Ende der Promenade erreicht hatte und soweit weg von zuhause war, wie es innerhalb Zvorniks nur geht, konnte ich im Schneesturm nur noch ein paar Meter weit sehen und war, trotz allen Schüttelns und Abklopfens, ganzkörperweiss. Ein paar vereinzelte Gestalten kamen mir entgegen und es kam mir in den Sinn, wie Menschen doch einsam aussehen, wenn sie vom Unwetter ueberrascht werden.
Natürlich erreichte ich unsere Wohnung, als der Sturm aufhörte und der Schnee anfing, große Pfützen auf den Straßen zu bilden. Schön wars im Warmen, meine Hände waren erfroren, mein Gesicht knallrot, aber für diese Riesenladung frische Luft und ein Wintergefühl, wie ich es lange nicht mehr hatte, war es das allemal wert.

16
Nov
2008

Brot und Drogen

Die Müllabfuhr kommt in Zvornik am Sonntag. Draußen dran am Müllauto steht „Haben Sie schon eine Biotonne?“, und nach einer Weile wird mir klar, dass ich es verstehe, weil es Deutsch ist. Natürlich eine Spende, das Auto.
Es ist inzwischen kalt geworden, nachdem der November noch mit über 25°C anfing. Die Kälte fühlt sich richtiger an als der falsche Frühsommer und ich kann mich langsam auf die tatsächliche Jahreszeit einstellen. Das heißt irgendwie auch, ständig über Weihnachten nachzudenken und sich drüber zu unterhalten. Für die Serben ist Weihnachten am 7. Januar, und glücklicherweise bin ich dann schon wieder hier und werde es nicht verpassen. Dementsprechend planen wir eine Feier im Freundeskreis, und mit den Mädels dreht sich das Gespräch eigentlich fast nur ums Essen. Dass wir uns einen Tag vorher treffen, und dann wird unanständig viel gekocht, und ich lerne, wie man sämtliche traditionellen Gerichte zubereitet. Der Januar scheint in kulinarischer Hinsicht insgesamt ein schwer zu bewältigender Monat zu sein, eine Menge Leute feiert dort Slava, also das nicht weniger als Weihnachten üppige Familienfest am Tag eines Heiligen.

An dieser Stelle ein kleiner (weiterer) Ausflug in die Esskultur. Dass es in Bosnien kein Schwarzbrot oder auch nur irgendwas dem entfernt Ähnelndes gibt, wird niemanden wundern. Dabei ist Brot hier vielleicht das wichtigste Grundnahrungsmittel, es wird einfach zu allem dazu gegessen, nur nicht – zu Suppe. Suppen spielen darüber hinaus eine wichtige Rolle und werden eigentlich von allen geliebt. Als ich darüber staunte (weil ich Ahnungslose Suppen ein bisschen nichtssagend finde), wurde zurückgestaunt: Wie bist du denn ohne regelmäßiges Suppeessen so groß geworden?!
Außerdem ist natürlich keine fleischlose Mahlzeit eine richtige Mahlzeit, und man mag es gern getrennt. Heißt, „Salat“ sind nebeneinanderliegende Gurken- und Tomatenscheiben mit endlos viel Öl und Salz. Kein Essig. Und tendenziell keine Salatsoßen.

Die Kälte bringt nicht bei allen Mitbürgern Wandel in der Kleidung mit sich. Frauen, vor allem sehr junge, laufen auch nachts auf dem Weg zur oder von der Party bei 5°C mit offenen, dünnen Jäckchen und kurzen Röckchen über dünnen Strumpfhosen rum. Ich frage mich, wie sie so den Winter überleben.
Vielleicht hat das mit dem weithin praktizierten Drogenkonsum zu tun, der die Menschen temperaturunemfindlicher macht?! Langsam kriege ich mit, wo und wie gedealt wird, ich weiß, wer zu den stadtweit bekannten Junkies zu zählen ist, und mir ist aufgegangen, dass die konspirativen Treffen am Billardtisch weniger in Zigaretten- als anderem Rauch aufgehen. Am Freitagabend war die Toilette der Bar, in der ich mit Freunden saß, eine halbe Stunde lang unbenutzbar, weil eine Clique von Kindern (vielleicht 16, 17 Jahre alt) abwechselnd pärchenweise drinnen verschwand, offensichtlich, um „Stoff“ auszutauschen. Erschreckend ist vielleicht das am meisten: wie jung sie sind. Das Durchschnittsalter in dieser Bar will ich lieber nicht schätzen, aber oft, wenn ich hereinkomme, habe ich den Eindruck, ich sei bei weitem die Älteste.
Abschnitt Drogen, Abteilung Alkohol: Ich habe noch nie vorher Leute gesehen, die in diesem fortgeschrittenen Maße und derartig dauerhaft betrunken sind. Zwar sind auch in Bosnien „die Russen“ als die unerreichten Trinker bekannt (neulich erzählte eine Freundin von einem ihr bekannten russischen Studenten, der eine Flasche Wodka in einem Zug leerte), aber groß kann der Abstand zu den Bosniern nicht sein. Um so erstaunlicher sind jene unter den Dauertrinkern, die am nächsten Tag trotzdem arbeiten und dabei nicht mal besonders mitgenommen aussehen. Ein gutes Zeichen?!

Und noch ein bisschen was Schoenes

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Herbstspaziergang in Zvornik

14
Nov
2008

grenzüberschreitend

Neulich wurde mir eine junge Frau vorgestellt, und schon bevor ich das breite Grinsen der anderen sah, wusste ich aufgrund ihres Kleidungsstils, Haarschnitts und der seltsamen Zurückhaltung, mit der sie mir die Hand gab, dass Deutschland im Spiel war. Erst bei unserer zweiten Begegnung hatten wir kurz Zeit, ein wenig ins Gespräch zu kommen, und so kurz es auch war, reichte es mir, um mich ein wenig unwohl zu fühlen. Die junge Frau ist Bosnierin – wenn man von ihrer Herkunft ausgeht, hat aber die meiste Zeit ihres Lebens in Deutschland verbracht und sieht sich selbst „zu 90% als Deutsche“. Sie hat beide Pässe. In zehn Minuten erzählte sie mir die Kurzfassung ihrer Lebensgeschichte und zeigte sich dann selbst erstaunt darüber. Wesentlich war daran vor allem der Ausdruck ihres Unwohlseins, jedes Mal, wenn sie nach Zvornik kommt. Denn, wie sie sagte, sie kann sich einfach nicht sicher sein über die Menschen hier. Was sie eigentlich von ihr wollen. Sie geht abends aus, aber sie kann einfach, anders als in ähnlichen Situationen in Deutschland, nicht sie selbst sein. Wenn Leute sie ansprechen, sie kennenlernen wollen, weiß sie nie, warum sie das tun. Geht es ihnen um SIE, um den Menschen, oder um SIE, die Deutsche?! Wollen diese Bosnier am Ende nur ihr Geld?
Ihr Redefluss war nützlich, so dass ich mich auf ein paar „Mmh“s beschränken konnte. Wir sind ja beide Deutsche, wir verstehen uns doch, so etwas klang in ihrer Rede an. Und ich war ganz zufrieden, dass keine Zwangsfreundschaft daraus entstehen musste (sie flog zwei Tage später zurück ins Paradies).
Natürlich liegt in ihrer Angst, ausgebeutet zu werden, eine gewisse Berechtigung. Und andererseits eine fürchterliche Vermessenheit. Dass bloß niemand wage, die Wohlstandsgrenzen anzutasten, die uns voneinander trennen.
Es mag ein Unterschied bestehen zwischen ihr, der man Blutsbande zum Verhängnis machen könnte und zur Begründung für eine gewisse Verpflichtung den Leuten hier gegenüber, etwas abzugeben, und mir, die ich sozusagen nichts dafür kann, hier zu sein, ich bin einfach nur dumm genug, diese Wahl getroffen zu haben, und deshalb nicht ganz so antastbar. Die Hürde, mich nach Geld zu fragen, wäre wahrscheinlich ein Stück höher als bei ihr. Darüber hinaus habe ich es jedoch nie erlebt, dass jemand versuchte, meine Bekanntschaft zu machen, um an meine Finanzen zu kommen. Um mit mir über Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu diskutieren, ja. Um „die Deutsche“ ein bisschen auszuquetschen und zu fragen, wie in aller Welt sie nach Zvornik kam und warum sie auch noch länger bleibt, als unbedingt notwendig, ja. Vielleicht auch, weil die meisten Mädels hier dunkle Haare haben und ich blond bin. Aber nie um des Geldes willen.
Deshalb finde ich es mindestens traurig, wie jemand, der doch zumindest einen Funken Heimatgefühl in sich tragen sollte, und sei es nur um einiger hier verbrachter Kindheitsjahre willen, seinen eigenen Leuten so misstrauen kann. Das ist leider etwas, was ich als schlechtes Erbe aus Deutschland sehe. Zuerst ICH, und dann mal sehen. Ganz zu schweigen von dem Gedanken – selbst wenn Menschen hier mehrheitlich so wären, so gierig nach Geld, so bedacht auf Ausbeutung des ersten willigen Opfers aus dem Westen (und dass es dieses Denken gibt, will ich nicht abstreiten), wie ist es denn tatsächlich mit der Verteilung unserer Mittel? Haben wir in Deutschland je Angst gehabt, wir könnten am nächsten Tag keine Lebensmittel kaufen, weil das lächerlich kleine Gehalt viel zu schnell für die Miete, Strom, Wasser, Heizung, Familie, Schulden draufging? Mussten wir, meine Generation, je im Winter in kaputten Schuhen und in zu dünner Kleidung rumlaufen, weil es für die Anschaffung von warmen Sachen diesen Monat einfach nicht gereicht hat?
Es geht nicht um die Verteilung von Almosen, aber bei solchem generellen Misstrauen fehlt mir schlicht die Menschlichkeit. Vielleicht kann man seinen eigenen Egoismus antasten und fragen, was notwendig ist. Und nicht so sehr, was „eigentlich“ meins ist, wieviel mir zusteht, sondern, was ich davon abgeben kann. Weil ich im Paradies geboren bin oder das Glück hatte, rechtzeitig dorthin verpflanzt zu werden.

16
Okt
2008

Es wird kalt - aber warm

An Bijeljina selbst ist, das habe ich, denke ich, schon geschrieben, nicht viel Schönes. Darüber ist man sich weitgehend einig (die Leute in Bijeljina habe ich zugegebenermaßen nicht gefragt). Schön ist ein kleiner Park mit alten Bäumen nicht weit von der Stadtmitte, neben dem sich zufällig der Computerladen befindet, dem ich einen dringenden Besuch abstatten muss, um ein neues Ladegerät für meinen zwangsstillgelegten Laptop zu kaufen.
Und dann überrascht mich die Fahrt in diese langweilige Stadt, schließlich nicht zum ersten Mal unternommen, doch noch. Wir haben in aller Frühe eine Mitfahrgelegenheit bekommen, und kurz nach Sonnenaufgang sitzen wir im Auto, die Berge sind halb im Nebel, das Licht malt die Landschaft in sanften Tönen, und ich verliere mein Herz nun ganz an Bosnien. Als ich auf der Rückfahrt im Bus meinem Freund vorschwärme („und guck, die Schafe! und die kleinen Dörfer!“), erwidert er ironisch, und die verfallenen Häuser! die Außentoiletten!, aber das kann meine Stimmung nicht mehr trüben. Der Herbst ist einfach zu golden.

Der erste von zwei Allerseelentagen der orthodoxen Religion ist am 11. Oktober. Die serbischen Familien gehen auf die Friedhöfe zu ihren Toten, wo symbolisch zum Gedenken Wein getrunken wird. Zeitgleich sitze ich an meinem Computer und arbeite, während draußen in einem Café plötzlich Volksmusik aufgedreht wird und ein paar Männer lautstark dazu brüllen und johlen (irrtümlicherweise halte ich den Lärm aus der Entfernung erst für eine Feiertagsprozession). Vielleicht ist ihnen der Feiertag aufs Gemüt geschlagen. Sogar die Katze verlässt, nach kurzem Starren mit weit aufgerissenen Augen, den sonst über alles geliebten Balkon schnell wieder. Zu laut hier.

Und gestern fing endlich das Heizen an. Plötzlich habe ich kein Problem mehr damit, morgens aufzuwachen, weil die Temperaturen auch jenseits der Bettdecke keine Gefahr für die Gesundheit mehr darstellen. Nachteil: Einfluss haben wir auf diese Temperaturen nach wie vor nicht, denn geheizt wird zwischen 7 und 22 Uhr, sowas wie Thermostate gibt es nicht, und deshalb kann man die zunehmende Hitze entweder genießen und im T-Shirt durch die Wohnung laufen oder die Fenster aufreissen. Alles sehr umweltfreundlich, aber nicht zu ändern. Gezahlt wird logischerweise nach Quadratmetern der Wohnung (auch wenn wir z.B. das große Wohnzimmer gar nicht nutzen und es dementsprechend auch nicht geheizt werden müsste). Die Willkür, mangelnde Informations- und wankelmütige Preispolitik der Wasserversorger und Heizwerke sind bekannt, und mir ist davor etwas mulmig. Aber bis zur ersten Rechnung genieße ich das gemütliche Gefühl des Drinnen- und Warmseins erstmal so unbeschwert wie möglich.

8
Okt
2008

Ein Ausflug ins Politische

Am 05. Oktober waren Kommunalwahlen. Kein grosses Ereignis, der allgemeinen Meinung nach, voellig egal, ob man hingeht oder nicht, gleichgueltig, was rauskommt. Ein hinsichtlich der Statistiken interessanter Artikel besagte, 70% der Bosnier seien an den Wahlen uninteressiert und nur 2% der Wahlversprechen bezoege sich nicht auf leere Phrasen und nationalistische Propaganda (“Wahrung nationaler Interessen”), sondern auf konkrete Massnahmen zu tatsaechlichen Problemen der Menschen hier. Der Zusammenhang zwischen beiden Zahlen scheint logisch. (nachzulesen unter http://www.volksstimme.de/vsm/nachrichten/meinung_und_debatte/meinung_und_debatte/?sid=dqc6uaolav6ab4cg0bpqm9jj95&em_cnt=1184910)
Fuer mich bedeuteten die Wahlen vor allem Ende der nervigen Dauermusikbeschallung von allen Seiten sowie der Moechtegern-Grossveranstaltungen im Stadtzentrum. Da standen des oefteren 20 Leute, die gern wie 200 ausgesehen haetten, mit 10 ueberlebensgrossen (serbischen) Fahnen ausgestattet, die sie eifrig schwenkten, plakativ siegesgewisser Musik und Zettelverteilern auf beiden Strassenseiten, so dass ein Entkommen nicht moeglich war. Am Abend der Wahlen quoll das Parteibuero der SNSD - der in Zvornik vor, und wie sich herausstellte, auch nach den Wahlen regierenden Partei, ausserdem Partei des Ministerpraesidenten der Republika Srpska Milorad Dodik - foermlich ueber, und der Wahlsieg wurde mit gluecklicherweise nur kurz andauernden Hupkonzerten gefeiert. Vorbei das Schmierentheater, wie gut.

Im Alltag kann ich gegenueber den letzten Monaten keine Veraenderung der Stimmung ausmachen, als beunruhigend jedoch empfand ich die Aussage des Hohen Repraesentanten der EU in Bosnien, Miroslav Lajcak, vor einigen Tagen, ein Auseinanderbrechen Bosniens sei derzeit wahrscheinlicher als je zuvor. Aus dem Mund jedes anderen Politikers vor Ort haette man die Aussage als uebliche Wichtigtuerei behandeln koennen (was tut man nichts alles fuer eine Schlagzeile, denn mit richtiger Politik, mit Inhalten punktet hier keiner), bei Lajcak handelt es sich aber um den Chefdiplomaten der EU. Einer, von dem man generell eher vorsichtige Aussagen erwartet.
Was waere, wenn? Richtig an mich heranlassen moechte ich den Gedanken nicht. Ich haenge an diesem komplizierten, vielleicht unmoeglichen und noch immer so vielfaeltigen Bosnien. Ich moechte glauben koennen, dass das Zusammenleben hier ohne eine erneute Aufsplittung (in Teile von Teilen) eines Tages moeglich sein wird, und gut moeglich. Viel ernster jedoch: es ist nicht auszudenken, was eine Spaltung an erneuten (gewalttaetigen?) Unruhen mit sich braechte, was das fuer die Bevoelkerungsteile der jeweils anderen ethnischen Gruppe mit sich braechte, die derzeit in ihrem Landesteil die Minderheit darstellen (die Muslime in der Serbischen Republik und die Serben in der Foederation, die Kroaten, die angeblich sowieso ueberwiegend das Land verlassen wollen, mal aussen vorgelassen…). Erneute Fluechtlingsstroeme aus Leuten, die sich nur zu gut erinnern, was Vertreibung heisst. Und dann? Ein Anschluss der Serbischen Republik an Serbien waere unumgaenglich, das Interesse und der Druck durch Serbien zu stark. Und Bosnien ein muslimischer Staat mit stetig schwindender kroatischer Minderheit.

In diese Gedanken hinein spielt ein Gespraech vom heutigen Tag mit Tanja. Sie ist 21, Journalistikstudentin im letzten Jahr, schon in die USA und nach Norwegen gereist, spricht hervorragend Englisch, lernt Arabisch, Spanisch und von mir demnaechst vielleicht Deutsch und will ihr Land, wie so viele, fuer ein Aufbaustudium verlassen (und nicht unbedingt wiederkommen). Gespraeche mit ihr unterscheiden sich eigentlich nicht sehr von denen, die ich mit deutschen Freundinnen haette, sie ist offen in ihrem Denken, herzlich und unkompliziert in ihrer Art. Ich nutze ihren Computer, seit meiner (bzw. das Ladegeraet) den Geist aufgegeben hat und ich merke, wie sehr ich in der Provinz lebe, denn den Ersatz zu bekommen, ist keine kleine Huerde. Aus der Arbeitsbeziehung ist innerhalb von Tagen eine Freundschaft geworden, die ich aufgrund ihrer Unkompliziertheit und Naehe sehr schaetze.
Bei einem Tee in einer Lernpause kamen wir auf die Geschichte und politische Situation des Landes zu sprechen, ganz ungezwungen und entspannt, was bei diesem Thema alles andere als normal und deshalb umso schaetzenswerter ist. Und da sagte sie mir (auch sie!), sie glaube nicht, dass in Bosnien jemals Normalitaet einkehren werde, dass Versoehnung moeglich sei. In 10-15 Jahren waere wieder Krieg. Warum, sagte ich, es gibt doch dich und Leute wie dich, warum bist du so pessimistisch? Sie sagte, ich sei romantisch. Und es gaebe zwar Leute, die daechten wie ich, aber die meisten saehen die Situation ‘realistisch;. Die Menschen koennten nicht zueinander finden. Waere ich Muslimin oder Serbin, koennte ich die Spannungen spueren, die eben doch bestehen.
Sie selbst ist halb Serbin, halb Kroatin und hatte schonmal einen muslimischen Freund. Von dessen Mutter wurde sie als ‘Schwein’ beschimpft, und sie war sich sicher, haette die Verbindung gehalten, haette das fuer sie als auch fuer ihn die Verstossung durch die eigene Familie bedeutet. Aber nicht nur die aelteren Generationen seien das Problem, sondern die Weitergabe ihres Hasses an die Juengeren.
Und ich bin mal wieder traurig. Dass gerade die Menschen, die diesen Hass nicht empfinden, sich ihm gegenueber machtlos sehen.

25
Sep
2008

Alltag mit Katze

Seit ich gehört habe, dass die Winter hier in Zvornik überwiegend sonnig sind und die Regentage schon vor meiner Ankunft vorbeigegangen seien, regnet es unaufhörlich. Das Wetter ist ziemlich beeindruckend, bedenkt man, dass die Temperaturen innerhalb von einer Woche um ca. 20°C gefallen sind. Vom Sommer direkt in den Winter, sagen die Leute und lächeln, hier gibt es nur Extreme.

Unsere Katze ist klein, immer hungrig und ungeduldig. Wenn ich in der Küche stehe, schimpft sie so lange mit mir, bis ich sie entweder füttere oder auf den Arm nehme; tue ich das nicht, muss ich mit einer Kletterattacke auf mein Bein rechnen, was in Ordnung ist, solange ich Jeans trage, ansonsten mehr als unangenehm. Übel nehmen kann ich ihr nichts, auch nicht, dass sie mir jede Menge Arbeit macht was das Saubermachen angeht, und anscheinend an einem ernsthaften Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom leidet, denn sie ist schlichtweg entzückend, und ich kann mich gar nicht genug freuen, dass ich nun endlich wieder in Gesellschaft einer Katze lebe und das auch noch in Bosnien, was eigentlich schon in den letzten Monaten der Plan war, sich aber nicht ergab.

Gerade ist Vorwahlzeit (Kommunalwahlen am 05. Oktober), und die Kandidaten und ihre Werbung sind überall präsent. Gegenüber unserer Wohnung ist anscheinend ein Parteibüro, in dem regelmäßig mit lauter Musik beschallte Veranstaltungen stattfinden, was besonders unangenehm wird, wenn gleichzeitig ein Lautsprecherwagen mit anderer Wahlwerbung und anderer Musik seine Runden um den Block dreht (Zvornik ist klein und das Auto nie wirklich außer Hörweite).

Die Wohnung füllt sich langsam mit haushaltsnotwendigen Kleinigkeiten. An Glühbirnen fehlt es noch, vor allem in der Küche, in der sich nach dem Dunkelwerden (zum Glück kleine) Kakerlaken austoben. Ich merke, dass ich mich mit meinem Hausfrauendasein sehr gut von meiner Diplomarbeit ablenken kann... im Übrigen auch mit Kneipenspielen, die allerdings nebenbei eine sehr wichtige soziale Funktion erfüllen (wo könnte ich besser mit wenigen Worten kommunizieren als dort). Nachdem ich beim Dart entsetzlich verloren hatte, musste ich heute einen ganzen Übungsnachmittag einlegen, und neben den verschiedenen Billardtischen gibt es jetzt auch eine verlockende Tischtennisplatte in einer der Bars. Immerhin ist das ein bisschen Sport und nicht nur eine faule Ausrede.

23
Sep
2008

Desillusion

Langsam bekommt die Wohnung einen wohnlichen Charakter. Noch immer fehlen Möbel und Einrichtungsgegenstände, vor allem Geschirr in der Küche, aber mittlerweile gibt es einen Herd und Tassen, so dass wir uns morgens einen Kaffee kochen können, und eine Sofaecke zum Trinken des Kaffees gibt es in meinem Arbeitszimmer auch schon. Wir haben außerdem Zuwachs bekommen – eine kleine graue Katze, abends vor einer Bar gefunden, ist mit eingezogen und fühlt sich schon sehr heimisch. Während ich arbeite (und auch sonst immer dann, wenn es irgendwie geht) sitzt sie auf meinem Schoß und wärmt mich (ich sitze am Laptop mit zwei Wollpullovern an, meiner dicksten Hose, zwei paar Strümpfen, Pulswärmern und fingerlosen Handschuhen. Da ich mir jetzt auch Tee kochen kann, hoffe ich, den Kampf gegen irgendeine Erkältung oder anderes Krankwerden bis zum 15. Oktober erfolgreich zu überstehen).
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Leider wurde meinen enthusiastischen Plänen gestern ein schwerer Schlag versetzt. Ahnungslos fuhren wir zur Ausländerbehörde nach Bijeljina, um mich zu registrieren, worauf ich erfuhr, dass das nicht mehr möglich ist und ich mich derzeit illegal im Land aufhalte. Laut einer neuen Bestimmung muss man nach einem dreimonatigen Aufenthalt Bosnien für drei Monate verlassen, bevor man wieder einreisen darf. Das bedeutet, ich hätte eigentlich direkt in Sarajevo am Flughafen abgewiesen werden müssen, und es bedeutet vor allem, dass ich hier nicht einfach unkompliziert leben kann. Meine nächste Ausreise wird spannend, und ich muss mir Sorgen machen, ob ich danach überhaupt wieder einreisen darf – jedenfalls vor einer Frist von drei Monaten. Plötzlich stellt sich die Frage nach einem Job und der damit verbundenen Aufenthaltserlaubnis schon mit aller Dringlichkeit, denn sollte ich keine Arbeit finden, würde mich das vor die Entscheidung stellen, illegal zu leben, was, sollte es herauskommen, eine Ausweisung aus dem Land für ein ganzes Jahr bedeutet, oder alle drei Monate zu pendeln. Beides sind eigentlich keine Optionen.
Ich war sehr getroffen, Freunde kommentierten sarkastisch, die Behörden sollten froh sein, dass überhaupt jemand kommt, um hier zu leben, denn alle, die hier sind, wollen nichts als raus... Ich fühle mich unruhig, als stünde meine Ausreise unmittelbar bevor, als müsste ich schon wieder weg, dabei wollte ich endlich mal ankommen. Ungewissheit über meinen Aufenthaltsstatus ist wirklich das letzte, was ich mir im Moment wünsche. Dazu kommt der bittere Eindruck, ausgeliefert zu sein und Ärger über mich selbst, doch wieder zu naiv an das Projekt „Mein Leben in Bosnien“ herangetreten zu sein. Wie hab ich glauben können, hier sei irgendwas mal einfach...
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